Verfasser: AG Prävention (Julian Resch), Lesezeit 3 Minuten
Physiotherapie in Bewegung – Von der Krankengymnastik zur Bewegungsförderung
Nach Jahren des gefühlten Stillstands kommt endlich Bewegung in die deutsche Physiotherapie. Die längst überfällige Reform unserer Ausbildung wird derzeit leidenschaftlich diskutiert. Parallel dazu formieren sich Initiativen, die unsere Profession fit für die Zukunft machen wollen. In diesem Beitrag streife ich kurz die Entwicklung der Physiotherapie, beleuchte die wandelnde Rolle von Bewegung in unserem beruflichen Selbstverständnis und zeige auf, welche Chance sich daraus für unseren Beruf ergibt.
Zwischen Werkstatt und Turnmatte
Nach den beiden Weltkriegen erlebte die physikalische Therapie – von Physiotherapie war damals noch keine Rede – einen regelrechten Boom. Hunderttausende Verwundete brauchten Rehabilitationsmaßnahmen und Krankengymnastinnen (damals wie heute überwiegend Frauen) wurden in Lazaretten und orthopädischen Kliniken zu unverzichtbaren Partnerinnen. Sie halfen den Heimkehrenden, Mobilität und Selbstständigkeit wiederzuerlangen. Sie wurden fester Bestandteil der multidisziplinären Behandlungsteams in der Rehabilitation.
Mit dem Drang sich gegenüber der Medizin zu behaupten und Anerkennung zu gewinnen, übernahm die Physiotherapie ein ausgeprägt biomedizinisches Denkmuster. Der Mensch wurde vor allem als mechanisches System betrachtet. Gelenke funktionieren wie Scharniere, Muskeln wie Seilzüge, Nerven wie elektrische Kabel – der Körper als Maschine1. Im Fokus standen messbare Funktionsstörungen sowie deren Reparatur. Krankengymnastinnen konzentrierten sich darauf, Einschränkungen präzise zu beziffern, geschädigtes Gewebe zu mobilisieren und später auch die Muskulatur mit Turnübungen wieder aufzubauen. Bewegung war Mittel zum Zweck – Abweichungen von der Norm mussten erkannt werden und die Norm so exakt wie nur möglich wiederhergestellt.
Doch Bewegung ist viel mehr als nur das Rollen und Gleiten der Gelenkflächen.
Paradigmenwechsel
In den letzten Jahrzehnten hat sich der einst rein kurative Fokus allmählich geöffnet und einem Gesundheitsverständnis Platz gemacht, das Körper, Geist und Umwelt als dynamisch miteinander verwoben begreift. Damit ändern sich auch einige Paradigmen in der Physiotherapie, so zum Beispiel
- verlassen sich Physios immer mehr auf Evidenz anstelle ihres Bauchgefühls;
- gestalten Patient*innen den Prozess aktiv mit, statt nur passiv behandelt zu werden;
- weicht die tiefsitzende 3x15 Übungslogik alltagsrelevanten Strategien, die neben Übungen auch den Lebensstil adressieren.
Die Kompetenzpalette wächst. Motivational Interviewing, Gesundheitskompetenz oder selbst auch die Statistik-Basics gehören inzwischen zum Fort- und Weiterbildungsprogramm vieler Physios – an der klassischen Schulbank werden diese Kompetenzen jedoch nach wie vor wohl nur unzureichend vermittelt.
“More active people for a healthier world”
Die Herausforderungen unserer Zeit sind groß – eine alternde Bevölkerung, die wachsende Last nichtübertragbarer Erkrankungen und die alltägliche Realität von Multimorbidität erhöhen die Komplexität unseres Auftrags. Prävention und Gesundheitsförderung dürfen deshalb keine nachträglichen Add-ons sein, sondern gehören ins Herzstück unseres beruflichen Selbstverständnisses.
Der globale Aktionsplan für Bewegung der WHO formuliert die Rolle von Gesundheitsfachberufen als Schlüsselstrategie zur Bewegungsförderung2. Unsere Aufgabe ist es, Patient*innen dabei zu unterstützen, Bewegung – körperliche Aktivität – in ihr Leben zu integrieren und langfristig beizubehalten.
Was bedeutet das für uns als Profession? Dies fordert, Bewegungsförderung als durchgehenden Leitfaden jeder physiotherapeutischen Intervention zu verankern. Wir werden zu Coaches, die gemeinsam mit Patient*innen individuelle Aktivitätsziele entwickeln, Barrieren identifizieren und Fortschritte gemeinsam reflektieren. Dazu brauchen wir ausgeprägte Kommunikationskompetenzen, ein solides Verständnis verhaltenswissenschaftlicher Modelle und die Bereitschaft, unsere Wirkung über die Praxisräume hinaus auszudehnen.
Weltweit ist dieser Paradigmenwechsel bereits in vollem Gange. Es wird Zeit, dass sich auch die deutsche Physiotherapie entschlossen in diese Richtung bewegt.
1Für eine weitgreifende Diskussion der Entwicklungsgeschichte der Physiotherapie empfehle ich das Buch The End of Physiotherapy von David A. Nicholls.
2Global action plan on physical activity 2018–2030: more active people for a healthier world. Geneva: World Health Organization; 2018. https://www.who.int/initiatives/gappa/action-plan
Foto: Prostoleeh (www.freepik.com)
23.05.2025