Verfasser: AG Prävention (Julian Resch), Lesezeit 5 Minuten
Politik als Rückenwind für Bewegungsförderung
Bewegung ist mehr als nur ein persönlicher Lebensstil. Sie ist ein Schlüssel zur Gesundheit einer ganzen Gesellschaft. Wer sich regelmäßig bewegt, fühlt sich wohler, verbessert die Lebensqualität und senkt gleichzeitig - ganz nebenbei - sein Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, bestimmte Krebsarten und Depressionen. Wer sich nicht oder zu wenig bewegt, erhöht hingegen das eigene Krankheitsrisiko. Diese nichtübertragbaren Erkrankungen gehören weltweit zu den häufigsten Todesursachen1. Auch in der Physiotherapie begegnen sie uns ständig – sei es als Begleiterkrankung oder als Ursache vieler Beschwerden.
Aktuelle Daten des Robert-Koch-Instituts zeigen, dass nur etwa die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland das empfohlene Mindestmaß erreichen2. Bei älteren Menschen, sozial benachteiligten Gruppen und Menschen mit nichtübertragbaren Erkrankungen liegt der Anteil sogar noch niedriger2,3. Bewegungsmangel ist damit nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Genau hier kommt auch die Politik ins Spiel.
Politische Strategien schaffen den Rahmen, in dem gesundheitsfördernde Bewegung ermöglicht und vorangetrieben wird – von der Stadtplanung über den Arbeitsplatz bis hin zum Gesundheitswesen. Sie legen fest, unter welchen Bedingungen Bewegung stattfindet und gefördert werden kann. Ein wichtiger Meilenstein in diesem Zusammenhang war die Empfehlung des Rates der Europäischen Union zur sektorübergreifenden Förderung von gesundheitsfördernder körperlicher Aktivität4. Sie forderte die Mitgliedstaaten auf, Bewegung in allen Lebenswelten zu verankern und die Zusammenarbeit zwischen Politikfeldern zu stärken.
Für uns, die in der Bewegungsförderung aktiv sind, ist diese Empfehlung weit mehr als ein theoretisches Papier aus Brüssel. Sie markierte den politischen Startschuss für zahlreiche nationale Initiativen und lieferte die Legitimation, Bewegung nicht nur als Gegenstand des Gesundheitssektors, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Damit öffnete sie auch Türen für intersektorale Zusammenarbeit – etwa zwischen Physiotherapeut*innen, Kommunen, Schulen, Vereinen und Betrieben.
Die EU-Ratsempfehlung blieb in Deutschland nicht ohne Wirkung. 2016 wurden erstmals die Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (NEBB)5 veröffentlicht. Diese Empfehlungen übersetzen Evidenz in konkrete Richtwerte für Fachleute in Deutschland. Neben Bewegungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche, Erwachsene und ältere Erwachsene enthalten sie auch welche für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Zusätzlich zu den Angaben, wie viel wir uns bewegen sollen, bieten die NEBB auch einen zweiten Teil mit Empfehlungen zur Bewegungsförderung. Für jede Bevölkerungsgruppe werden wirksame Maßnahmen aus der Literatur zusammengefasst, die aufzeigen, wie und wo es sich empfiehlt, Bewegung gezielt zu fördern. Die NEBB waren ein wichtiger Schritt in der deutschen Bewegungsförderung: Erstmals gab es einen verbindlichen, nationalen Referenzrahmen für alle, die Bewegung fördern wollen – und auch für uns als Physiotherapeut*innen eine offizielle, politische Rückendeckung, um Bewegungsförderung als festen Bestandteil unseres Berufsauftrags zu verankern.
Nur zwei Jahre später, 2018, veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation den Global Action Plan for Physical Activity (GAPPA)6 nach. Sie setzt ein klares Ziel: körperliche Inaktivität bis 2030 weltweit um 15% zu reduzieren. Der GAPPA beschreibt vier Handlungsbereiche, die in allen Ländern umgesetzt werden sollten:
- Active Societies – Eine gesellschaftliche Kultur schaffen, in der Bewegung selbstverständlich ist.
- Active Environments – Lebenswelten so gestalten, dass sie zu mehr Bewegung einladen.
- Active People – Menschen gezielt dabei unterstützen, körperlich aktiv zu werden und zu bleiben.
- Active Systems – Politische und institutionelle Rahmenbedingungen schaffen, die Bewegung langfristig fördern.
Für uns in der Physiotherapie ist dieser Aktionsplan gleich in mehrfacher Hinsicht interessant. Der GAPPA benennt Gesundheitsfachberufe ausdrücklich als Schlüsselakteure der Bewegungsförderung. Er liefert zudem eine starke Argumentationsbasis gegenüber Kostenträgern, Kommunen oder anderen Entscheidungsträgern: Bewegungsförderung ist nicht nur „nice to have“, sondern ein anerkanntes, messbares Gesundheitsziel. Außerdem macht der GAPPA deutlich: Bewegungsförderung endet nicht im Behandlungszimmer. Wer Patient*innen nachhaltig zu mehr Bewegung motivieren möchte, muss auch deren Lebensumfeld im Blick haben.
Auch in der deutschen Gesundheitspolitik hat sich die Bewegungsförderung in der Zwischenzeit weiterentwickelt. In den letzten Jahren sind neue Plattformen und Initiativen entstanden, die das Thema Bewegung gezielt in Politik, Wissenschaft und Praxis verankern.
Ein Beispiel ist der Runde Tisch Bewegung und Gesundheit7, der 2022 vom Bundesministerium für Gesundheit ins Leben gerufen wurde. Er bringt Akteur*innen aus Ministerien, Krankenkassen, Verbänden, Wissenschaft und Praxis zusammen, um gemeinsam Strategien zu entwickeln und Synergien zu nutzen. Ziel ist es, Bewegung als festen Bestandteil in Präventions- und Versorgungskonzepte einzubetten – und das über Sektorengrenzen hinweg. In diesem Prozess entstand ein Konsenspapier, das im März 2024 veröffentlicht wurde. Es enthält sektorübergreifend abgestimmte Maßnahmen, die verschiedene Bevölkerungsgruppen in relevanten Lebenswelten adressieren. Das Konsenspapier legt vereinbarte Maßnahmen dar, die in den nächsten Jahren von den Akteur*innen umgesetzt werden.
So hat zum Beispiel das Bundesministerium für Gesundheit angekündigt, die NEBB zu aktualisieren. Die Empfehlungen von 2016 werden umfassend erweitert und wissenschaftlich überarbeitet. Neu ist unter anderem, dass weitere Bevölkerungsgruppen – hochbetagte Menschen, Menschen mit Behinderung, Schwangere und Frauen nach der Entbindung – eigene Bewegungsempfehlungen erhalten. Der Auftrag zur Umsetzung ging – wie bereits 2016 – erneut an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg8.
Ich darf selbst Teil des Projektteams sein, das an dieser Aktualisierung arbeitet. Für mich bedeutet das nicht nur, an spannenden wissenschaftlichen Fragen zu tüfteln, sondern auch gemeinsam mit Expert*innen aus ganz unterschiedlichen Bereichen an einem Strang zu ziehen. In einem großen Beteiligungsprozess entwickeln wir neue Strategien zur Bewegungsförderung – praxisnah, evidenzbasiert und hoffentlich so, dass sie später wirklich im Alltag der Menschen ankommen.
Für mich ist diese Aktualisierung auch eine wichtige Chance für unsere Profession. Physiotherapeut*innen sind schließlich Expert*innen für Bewegung9. Jetzt haben wir eine Möglichkeit, das auch auf politischer und strategischer Ebene zu zeigen. Wenn wir uns jetzt deutlich positionieren, können wir Bewegungsförderung mitgestalten.
Die AG Prävention arbeitet derzeit intensiv daran, sich neu zu erfinden. Deshalb mein Appell an alle Interessierten: Nehmt Kontakt zur AG Prävention auf, teilt eure Ideen, bringt euch ein – und lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass Bewegungsförderung in der Physiotherapie nicht nur ein Schlagwort bleibt, sondern gelebte Praxis.
1 World Health Organization, 2024. Noncommunicable diseases. Aufgerufen von: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/noncommunicable-diseases
2 Richter, A., Schienkiewitz, A., Starker, A., Krug, S., Domanska, O., Kuhnert, R., Loss, J., & Mensink, G., 2021. Gesundheitsfördernde Verhaltensweisen bei Erwachsenen in Deutschland – Ergebnisse der Studie GEDA 2019/2020-EHIS. Journal of Health Monitoring, 6(3). https://doi.org/10.25646/8460.2
3 Wenz, B., Graf, J., Sudeck, G., Geidl, W., Manz, K., Jordan, S., Teti, A., & Gabrys L., 2025. Physical activity and motivational readiness for physical activity behavior change in adults with non-communicable diseases in German: a trend analysis of two cross-sectional health surveys from the German GEDA study 2014/2015 and 2019/2020. BMC Public Health, 25(1),494. https://doi.org/10.1186/s12889-025-21507-y
4 Rat der europäischen Union, 2013. Empfehlung des Rates vom 26. November 2013 zur sektorübergreifenden Unterstützung gesundheitsförderlicher Aktivität. Aufgerufen von: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013H1204(01)
5 Rütten, A., & Pfeifer, K. (Hrsg.), 2016. Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung. Aufgerufen von: https://www.sport.fau.de/files/2016/05/Nationale-Empfehlungen-für-Bewegung-und-Bewegungsförderung-2016.pdf
6 World Health Organization, 2018. Global Action Plan on Physical Activity 2018-2030. More Active People for a Healthier World. Aufgerufen von: https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/272722/9789241514187-eng.pdf
7 Bundesministerium für Gesundheit, 2023. Abschlusssitzung „Runder Tisch Bewegung und Gesundheit“. Aufgerufen von: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/abschlusssitzung-runder-tisch-bewegung-und-gesundheit.html?utm_source=chatgpt.com
8 Aktualisierung und Weiterentwicklung der Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung (NEBB-Update). Aufgerufen von: https://www.sport.fau.de/das-institut/forschung/bewegung-und-gesundheit/forschungsprojekte/nebb-update/
14.08.2025